Zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeeer
Im Mai 2018 rettete die Crew des zivilen Rettungsschiffs Sea-Watch 3 mehr als 460 Menschen vor dem Ertrinken. Während dieser Zeit wurde ich für drei Wochen Teil der Mannschaft und konnte diese Fotodokumentation über Seenotrettung auf dem Mittelmeer erstellen. Seit 2015 fliehen vermehrt Menschen vor den Zuständen in ihren Heimatländern über die tödlichste Fluchtroute der Welt.
Das Such- und Rettungsgebiet, in dem die meisten Bootsunglücke passieren, liegt außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer im südlichen Teil des Mittelmeers. Die zweitägige Seereise dorthin starteten wir von Malta. Ausgerüstet mit einem Suchflugzeug, Radartechnik, einem Bordhospital und zwei Tochterbooten ist Sea-Watch in der Lage, mehrere hundert Menschen gleichzeitig vor dem Ertrinken zu retten. Während der Zeit auf See trainierten wir genau dies immer wieder. Trotz meiner mangelnden maritimen Erfahrungen lernte ich in kurzer Zeit viel und wurde fester Teil der Crew eines der Tochterboote.
Rund um die Uhr war die ehrenamtliche Crew im Einsatz, um nach Menschen in Seenot Ausschau zu halten. Nach Tagen ergebnisloser Suche erreichten uns morgens am 25. Mai Informationen über mehrere Gummiboote in Seenot, die nachts von der libyschen Küste gestartet waren. Innerhalb von zwei Tagen nahmen wir über 462 Menschen an Bord auf und retteten in Kooperation mit italienischen Behörden und anderen NGOs ca. 130 weitere vor dem Ertrinken.
Aus eigener Kraft hatten diese Menschen keine Chance zu überleben. Benzin- und Trinkwasservorräte waren bei Weitem nicht ausreichend. Wetterwechsel, Beschädigung der instabilen Gummiwände und die dadurch verursachte Panik im Boot können schnell zu lebensbedrohlichen Gefahren werden. Das nehmen die Menschen auf sich, um den Verhältnissen in Libyen zu entkommen. Es gibt zahllose Berichte über Folter, Morde, Sklaverei, Vergewaltigungen, sowie Erpressungen von Verwandten in den Heimatländern. In Libyen herrscht Bürgerkrieg und es gibt keinerlei Kontrolle. Eine der Bürgerkriegsparteien stellt die sogenannte libysche Küstenwache und wird von der EU finanziell und materiell unterstützt. Auch wir kamen in Kontakt mit einem ihrer Schiffe:
Während einer laufenden Rettungsaktion in internationalen Gewässern griff die sogenannte libysche Küstenwache ein. In Panik sprangen die Menschen aus dem überfüllten Gummiboot ins Meer. Sie fürchteten die Zustände, vor denen ihnen die Flucht gerade noch gelungen war, so sehr, dass sie auf keinen Fall riskieren wollten, dorthin zurückgebracht zu werden.
Innerhalb von Minuten befanden sich ca. 50 Nichtschwimmer*innen ohne Rettungswesten im offenen Mittelmeer. Aus allen Richtungen hörte ich Schreie, sah Köpfe im Wasser untergehen und wieder auftauchen. Ich konnte mich im ersten Moment nicht bewegen und mir wurde übel. Schlagartig wurde mir klar, dass es nun um Menschenleben ging. Der Schock legte sich schnell, und erstaunlich ruhig taten wir das, was wir trainiert hatten: Wir positionierten lange Schwimmkörper im Wasser, an denen sich die Menschen festhalten konnten. Nacheinander bargen wir die Menschen und brachten sie mit dem Tochterboot im Pendelverkehr an Bord des Mutterschiffs.
Erst im Nachhinein wurde mit Hilfe des Videomaterials klar, dass wir in dieser unübersichtlichen Situation den Tod Einzelner nicht verhindern konnten. Geräuschlos und ungesehen gingen einzelne Köpfe im Wasser unter und tauchten nicht mehr auf. Der erschreckend routinierte Umgang mit dem Tod ihrer vermissten Weggefährten*innen ließ erahnen, was diese Menschen bereits erleben mussten. Ohne das Eingreifen der sogenannten libyschen Küstenwache wäre an diesem Tag vermutlich niemand ertrunken.
Einer der Geretteten ist Ali. Es war sein sechster Fluchtversuch über das Mittelmeer. Zuvor wurde er von der sogenannten libyschen Küstenwache menschen- und seerechtswidrig fünf Mal zurück in die Lager in Libyen gebracht. Doch die Zustände dort treiben die Menschen dazu, die lebensgefährliche Überfahrt immer und immer wieder zu versuchen. Es ist ihr einziger Ausweg.
462 Menschen an Bord zu haben, war intensiv: Nahezu jeder Platz an Deck war blockiert. Alle Geretteten mussten mit Nahrung und Trinkwasser versorgt werden. Sofern sie nicht mit Verletzungen oder Seekrankheit zu kämpfen hatten, schliefen sie viel und erholten sich von den Strapazen der Flucht. Einige berichteten von grausamen Erlebnissen, während ihrer Zeit in Libyen: „C. J.“ ist Anfang 20 und kommt aus Nigeria. Seit über drei Jahren ist er auf der Flucht, weil in seiner Heimat die Terrororganisation Boko Haram wütet. Im libyschen Gefängnis musste er mit ansehen wie sein Bruder erschossen wurde. Während er mir das erzählte, kämpfte er - und schließlich auch ich - mit den Tränen.
Unsere Mission im Mai 2018 war die vorletzte, bevor die zivile Seenotrettung zum Spielball der europäischen Flüchtlingspolitik wurde. Als Konsequenz der Blockade ziviler Rettungsschiffe, ertranken allein im Juni 2018 mehr als 600 Menschen im zentralen Mittelmeer. Und das ist nur die Zahl der dokumentierten Todesopfer. Weitaus mehr dürften unbemerkt auf See gestorben sein. Seit Anfang 2019 sind wieder mehrere NGOs, darunter auch Sea-Watch, im Einsatz. Militärische und kommerzielle Schiffe halten sich seit langem aus dem Such- und Rettungsgebiet fern. Das macht es umso wichtiger, dass die NGOs stellvertretend für die Zivilgesellschaft der EU vor Ort sind. Sie sind die einzige Chance auf die Wahrung der Menschenrechte im Mittelmeer.
Sea-Watch steht vehement dafür ein, dass kein Mensch mehr an Europas tödlicher Seegrenze sterben muss. Um politisch und religiös unabhängig zu sein, finanziert sich Sea-Watch ausschließlich durch Spenden.
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Zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeeer
Im Mai 2018 rettete die Crew des zivilen Rettungsschiffs Sea-Watch 3 mehr als 460 Menschen vor dem Ertrinken. Während dieser Zeit wurde ich für drei Wochen Teil der Mannschaft und konnte diese Fotodokumentation über Seenotrettung auf dem Mittelmeer erstellen. Seit 2015 fliehen vermehrt Menschen vor den Zuständen in ihren Heimatländern über die tödlichste Fluchtroute der Welt.
Das Such- und Rettungsgebiet, in dem die meisten Bootsunglücke passieren, liegt außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer im südlichen Teil des Mittelmeers. Die zweitägige Seereise dorthin starteten wir von Malta. Ausgerüstet mit einem Suchflugzeug, Radartechnik, einem Bordhospital und zwei Tochterbooten ist Sea-Watch in der Lage, mehrere hundert Menschen gleichzeitig vor dem Ertrinken zu retten. Während der Zeit auf See trainierten wir genau dies immer wieder. Trotz meiner mangelnden maritimen Erfahrungen lernte ich in kurzer Zeit viel und wurde fester Teil der Crew eines der Tochterboote.
Rund um die Uhr war die ehrenamtliche Crew im Einsatz, um nach Menschen in Seenot Ausschau zu halten. Nach Tagen ergebnisloser Suche erreichten uns morgens am 25. Mai Informationen über mehrere Gummiboote in Seenot, die nachts von der libyschen Küste gestartet waren. Innerhalb von zwei Tagen nahmen wir über 462 Menschen an Bord auf und retteten in Kooperation mit italienischen Behörden und anderen NGOs ca. 130 weitere vor dem Ertrinken.
Aus eigener Kraft hatten diese Menschen keine Chance zu überleben. Benzin- und Trinkwasservorräte waren bei Weitem nicht ausreichend. Wetterwechsel, Beschädigung der instabilen Gummiwände und die dadurch verursachte Panik im Boot können schnell zu lebensbedrohlichen Gefahren werden. Das nehmen die Menschen auf sich, um den Verhältnissen in Libyen zu entkommen. Es gibt zahllose Berichte über Folter, Morde, Sklaverei, Vergewaltigungen, sowie Erpressungen von Verwandten in den Heimatländern.
In Libyen herrscht Bürgerkrieg und es gibt keinerlei Kontrolle. Eine der Bürgerkriegsparteien stellt die sogenannte libysche Küstenwache und wird von der EU finanziell und materiell unterstützt. Auch wir kamen in Kontakt mit einem ihrer Schiffe:
Während einer laufenden Rettungsaktion in internationalen Gewässern griff die sogenannte libysche Küstenwache ein. In Panik sprangen die Menschen aus dem überfüllten Gummiboot ins Meer. Sie fürchteten die Zustände, vor denen ihnen die Flucht gerade noch gelungen war, so sehr, dass sie auf keinen Fall riskieren wollten, dorthin zurückgebracht zu werden.
Innerhalb von Minuten befanden sich ca. 50 Nichtschwimmer*innen ohne Rettungswesten im offenen Mittelmeer. Aus allen Richtungen hörte ich Schreie, sah Köpfe im Wasser untergehen und wieder auftauchen. Ich konnte mich im ersten Moment nicht bewegen und mir wurde übel. Schlagartig wurde mir klar, dass es nun um Menschenleben ging. Der Schock legte sich schnell, und erstaunlich ruhig taten wir das, was wir trainiert hatten: Wir positionierten lange Schwimmkörper im Wasser, an denen sich die Menschen festhalten konnten. Nacheinander bargen wir die Menschen und brachten sie mit dem Tochterboot im Pendelverkehr an Bord des Mutterschiffs.
Erst im Nachhinein wurde mit Hilfe des Videomaterials klar, dass wir in dieser unübersichtlichen Situation den Tod Einzelner nicht verhindern konnten. Geräuschlos und ungesehen gingen einzelne Köpfe im Wasser unter und tauchten nicht mehr auf. Der erschreckend routinierte Umgang mit dem Tod ihrer vermissten Weggefährten*innen ließ erahnen, was diese Menschen bereits erleben mussten. Ohne das Eingreifen der sogenannten libyschen Küstenwache wäre an diesem Tag vermutlich niemand ertrunken.
Einer der Geretteten ist Ali. Es war sein sechster Fluchtversuch über das Mittelmeer. Zuvor wurde er von der sogenannten libyschen Küstenwache menschen- und seerechtswidrig fünf Mal zurück in die Lager in Libyen gebracht. Doch die Zustände dort treiben die Menschen dazu, die lebensgefährliche Überfahrt immer und immer wieder zu versuchen. Es ist ihr einziger Ausweg.
462 Menschen an Bord zu haben, war intensiv: Nahezu jeder Platz an Deck war blockiert. Alle Geretteten mussten mit Nahrung und Trinkwasser versorgt werden. Sofern sie nicht mit Verletzungen oder Seekrankheit zu kämpfen hatten, schliefen sie viel und erholten sich von den Strapazen der Flucht.
Einige berichteten von grausamen Erlebnissen, während ihrer Zeit in Libyen: „C. J.“ ist Anfang 20 und kommt aus Nigeria. Seit über drei Jahren ist er auf der Flucht, weil in seiner Heimat die Terrororganisation Boko Haram wütet. Im libyschen Gefängnis musste er mit ansehen wie sein Bruder erschossen wurde. Während er mir das erzählte, kämpfte er - und schließlich auch ich - mit den Tränen.
Unsere Mission im Mai 2018 war die vorletzte, bevor die zivile Seenotrettung zum Spielball der europäischen Flüchtlingspolitik wurde. Als Konsequenz der Blockade ziviler Rettungsschiffe, ertranken allein im Juni 2018 mehr als 600 Menschen im zentralen Mittelmeer. Und das ist nur die Zahl der dokumentierten Todesopfer. Weitaus mehr dürften unbemerkt auf See gestorben sein. Seit Anfang 2019 sind wieder mehrere NGOs, darunter auch Sea-Watch, im Einsatz. Militärische und kommerzielle Schiffe halten sich seit langem aus dem Such- und Rettungsgebiet fern. Das macht es umso wichtiger, dass die NGOs stellvertretend für die Zivilgesellschaft der EU vor Ort sind. Sie sind die einzige Chance auf die Wahrung der Menschenrechte im Mittelmeer.
Sea-Watch steht vehement dafür ein, dass kein Mensch mehr an Europas tödlicher Seegrenze sterben muss. Um politisch und religiös unabhängig zu sein, finanziert sich Sea-Watch ausschließlich durch Spenden.
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